Thursday, May 17, 2007

Wahrnehmung und Erwartungshaltung

In den vorausgegangenen Einträgen habe ich versucht zu zeigen dass unsere Wahrnehmung nicht so perfekt ist wie wir glauben. Wenn wir abgelenkt sind ist es möglich vor unseren Augen gravierende Veränderungen an einer Szene vorzunehmen ohne dass sie uns auffallen bzw. bewusst werden.

Ein mögliches Gegenargument ist dass die Beispiele die ich dafür gepostet habe alle mit Bewegung zu tun hatten und dass man bei einer statischen Szene kein Problem hätte bestimmte Details zu erkennen.

Zum Glück habe ich dafür vor einiger Zeit ein entsprechendes Photo gemacht:

A Bloodbath A Day Keeps The Doctor Away

Die Aufgabe: dieses Bild intensiv für ca. 1 Minute studieren und dann alle Auffälligkeiten beschreiben - die "Auflösung" erfolgt weiter unten.

Der deutsche Titel des Bildes ist "Blutbad" - ein Begriff der mindestens zwei verschiedene Bedeutungen haben kann: in der Regel stellen wir uns darunter ein Massaker vor. Die nicht-Erfüllung dieser Erwartung kann man in der Photographie (und auch anderen Bereichen) bewusst ausnutzen um einen "Aha" Effekt zu erzeugen.
Dadurch wird der Betrachter vom passiven zum aktiven Teilnehmer. Erst so wird aus einem Handwerk "Kunst" - und damit zu einem befriedigenden Erlebnis. Der Effekt eines Kunstwerks besteht in der Interaktion zwischen Zuschauer (dem Gehirn der Person) und dem betrachteten Objekt (Bild, Photo, Statue, Film, etc.).
Kunst basiert auf "simplen" Regeln die V.S. Ramachandran hier vorstellt.
Ich kann die ganze Serie seiner Reith Lectures nur wärmstens empfehlen.

Zurück zum Bild:
ich bin noch weit davon entfernt auch nur eines meiner Bilder als "Kunst" zu bezeichnen. Ich befinde mich noch viel zu sehr in der "handwerklich geschickten" Phase was das photographieren angeht. Aber ich finde immer und immer wieder dass meine beiden Hauptinteressen - Neurowissenschaften und Photographie - eine automatische Verbindung in meinen Bildern finden. So wie auch in diesem kleinen "Werk".

Und jetzt zur "Lösung":
wie schaut man sich so ein Bild an?
Wenn man das Photo zum ersten Mal sieht fängt unser Gehirn sofort an das Ganze in Einzelteile zu zerlegen und bestimmten Kategorien zuzuordnen; diese sind u.a. Bad, Spielzeug, Playmobil, Möbel, Photo, etc.
Danach wird weiter in Unterkategorien aufgeteilt: Badewanne, WC, Brause, ....

Und genau hier liegt das Problem:
Da unser Gehirn auf maximale Reaktionsgeschwindigkeit eingestellt ist (was ganz nützlich ist wenn man in der Wildnis überleben will) übernimmt es die Information über dieses Bild aus der entsprechenden Kategorie!, d.h. es verwendet nicht die tatsächliche visuelle Information sondern die Information die vor 20 Jahren oder mehr über das Konzept "Bad" abgespeichert wurde!
Unser Gehirn "erwartet" etwas (über das Konzept Bad) was gar nicht vorhanden ist bzw. bemerkt etwas nicht was tatsächlich vorhanden ist. Dadurch übersehen wir Details.

Wieso ist es denn so schwer in einem Text Schreibfehler zu finden den wir selbst geschrieben haben? Weil wir den Text nicht wirklich lesen wenn wir ihn versuchen zu korrigieren.
Der Text liegt in unserem Gedächtnis natürlich fehlerfrei vor; wenn wir ihn vom Papier oder Bildschirm lesen rufen wir die Information nicht visuell ab (dauert zu lange) - sondern unser Gehirn sendet die abgespeicherte Version. Deshalb übersehen wir selbst gravierende Fehler.
Um das Gehirn zu überlisten kann man Texte z.b. rückwärts lesen (also am Ende anfangen) weil dann unser Gedächtnis nicht eingreifen kann.

Warum ist unserem Gehirn Geschwindigkeit so wichtig und wieso probiert es immer (über Erwartungshaltungen) alles vorauszusehen?
Dank unserer Evolution wurden die "Träumer" aussortiert. ;-)
Derjenige der bei der geringsten Gefahr reagieren konnte hat überlebt. Wenn ein Raubtier plötzlich hinter einem Baum vorspringt ist es wichtig mich schnell in Deckung zu bringen - das kann ich machen wenn ich das Tier auf den ersten Blick in die Kategorie "Gefahr" unterbringen kann.
Deshalb erschrecken wir auch heute noch vor harmlosen Dingen die plötzlich auftauchen. Würde man sich Zeit für die Unterkategorisierung nehmen wäre man sehr schnell sehr tot.
Unsere Reaktion wird also durch die Kategorie bestimmt die unser Gehirn verwendet - nicht durch das was tatsächlich vorliegt.

Zum Bild: keine der Kategorien die wir verwenden enthält die Information dass Playmobilfiguren Mundwinkel haben die nach unten zeigen. Und noch viel weniger dass Augen und Mund schwarz sind. Playmobils haben immer braune Augen und grinsen die ganze Zeit. Und da unser Gehirn in Kategorien denkt fällt niemandem auf dass diese Figur anders ist. Wer es trotzdem bewusst wahrgenommen hat erhält 100 Punkte.

Die Verbindung zum Thema Schmerz ist ebenfalls sehr einfach (und unglaublich wichtig in der Therapie):
bei chronischen Patienten werden teilweise Bewegungen (bücken, heben, ...) in Kategorien eingeordnet bzw. Kategorien aktiviert die nichts mit dem tatsächlichen Geschehen zu tun haben! In diesen Fällen reicht es aus nur an eine Bewegung zu denken um eine Schmerzattacke zu provozieren. Das Gehirn erwartet Schmerz und löst ihn vorsichtshalber schon im voraus aus (Erwartungshaltung).
In diesem Fall muss die Software "umprogrammiert" und die fehlerhafte Einteilung gelöscht werden.
Wer hätte gedacht dass man durch ein einfaches (und lustiges) Photo einen der wichtigsten Grundsätze der Schmerzforschung erklären kann?!

3 comments:

Unknown said...

Schau dich mal hier beim Morgenbauer um:

http://morgenbauer.com/2007/04/05/menschen-sehen-immer-menschen/

Unknown said...

Jetzt ist gerade was komisches passiert: ich wollte dir einen Kommentar schreiben, dass ich ja garnicht wissen, dass die immer Grinsen und dabei ist mir eingefallen dass ich das sehr wohl tue. In dem Moment als ich "Playmobil-Hasser" schrieb dachte ich "knielose Grinser"...

Steffie-Cel said...

Interessanter Artikel!
LG
Steffi
Playmobil